Nachts allein in Freckenfeld
Daniel Bonaudo-Ewinger lotet aus, wie moderne Kunst aktuell aussehen kann: Die in der St. Georgskirche in Kandel gezeigten, in der Südpfalz entstandenen Arbeiten des Künstlers sind maßgeblich von seinem Lebensumfeld geprägt. Die abstrakten Bilder haben immer etwas mit seinem Leben zu tun: Während sich die Geschwindigkeit und Hektik in den Berliner Bildern niederschlägt, dominiert in den neu geschaffenen Kandeler Arbeiten eine ruhige, kontemplative Atmosphäre. Im Gegensatz zu Berlin, wo er mit der U- und S-Bahn eine Stunde ins Fabrikatelier mit Blick auf das Treiben der Großstadt hetzen musste, steigt er hier aufs Fahrrad und ist kurze Zeit später in seinem Atelier, in einer 300 Jahre alten, halb offenen Scheune in Kandel. "Kunst entsteht nicht im luftleeren Raum, vielmehr durchlaufen Kunstwerke viele transformative Gestaltungsschritte, bis sie ans Licht der Öffentlichkeit gelangen", betont der Künstler, der 1986 in Kandel geboren wurde.
Das zeigt sich auch in Titel und Inhalt der aktuellen Ausstellung "Nachts allein in Freckenfeld". Freckenfeld ist eine kleine Ortsgemeinde mit rund 1.600 Einwohnern im Landkreis Germersheim und gehört zur Verbandsgemeinde Kandel. Daniel Bonaudo-Ewinger erklärt seine Gefühle beim Arbeitsprozess wie folgt: "Ich habe mich an meine Jugend erinnert, man wusste nicht wohin, fuhr mit dem Rad oder ging zu Fuß auf eine Party oder ein Fest nach Freckenfeld und erkannte: Das hier ist nicht das, was ich suche. Ich verplempere meine Zeit, aber ich habe keine Alternative, kenne keine Perspektive" erklärt er. Es war die Zeit der Adoleszenz, die Suche nach der eigenen Biografie. Diese merkwürdigen Gefühle, abstrakt, kompliziert - sind die klassischen Themen der 'coming of age'-Kunst. Dieses biografische Erzählen hat Bonaudo-Ewinger künstlerisch verarbeitet und bezieht sich mit gesellschaftlichen und biografischen Dingen darauf. Für sein OEuvre ist seit einigen Jahren das Konzept von Pierre Bourdieu, einem französischen Soziologen, der sich mit Habitus und gesellschaftlichen Unterschieden befasst hat, von ganz zentraler Bedeutung. Er analysiert, wie das Denken und Handeln eines Menschen durch gegebene Strukturen geprägt werden. Durch finanzielle Mittel abgesichert zu sein, Geld zu haben, das beeinflusst das inhaltliche Verhältnis zur Kunst maßgeblich. Daniel Bonaudo-Ewinger ist von der Kernaussage des Existenzialisten Jean-Paul Sartre, dass der Mensch durch den Zufall seiner Geburt in die Existenz geworfen ist und aktiv selbst versuchen muss, dem Leben einen Sinn zu geben, beeinflusst. Mit 'dem Raum der Lebensstile', wie Bourdieu sagt, setzt sich der Künstler in seinen Arbeiten bewusst auseinander und zeigt mit seiner künstlerischen Position die Auseinandersetzung mit dem sozialen Gefüge und deren politische Relevanz sehr deutlich. Seit er in Kandel in seinem Atelier, dem Haus seiner Großeltern, arbeitet, suchte er einen neuen künstlerischen Ansatz, konfrontiert sich damit und findet eine aktuelle Antwort. Hier erprobt der Künstler neue Materialien, die aus seiner direkten Umgebung stammen. Mit den Fingern zeichnet er Spuren in den geschichtsträchtigen Sandsteinstaub, der sich auf die Leinwände absetzt. Abgetrocknete Blütenblätter und zerstampfte Glasscherben werden als Pigmente benutzt und zu flirrenden Flächen verdichtet.
Seine große Arbeit im Altarraum der St. Georgskirche trägt den Titel 'I won't let the sun go down on me'. Das Bild steht für das fragile Verhältnis zwischen positiver Selbstbekräftigung und Schaffenskrise – und ist, wie die rund 15 Bildern in Klein- und Mittelformat, allesamt ähnlich im Arbeitsprozess. Auch seine Skulptur bezieht sich auf das Umfeld. Auf farbiger Öl-Grundierung sammelt sich Staub und wird mit Fingerlinien oder Schablonen ergänzt. Bonaudo-Ewingers Verwendung des Materials erinnert an die Arte Povera. Die Werke sind typischerweise räumliche Installationen aus gewöhnlichen und alltäglichen Materialien wie Erde aus Kandel oder Freckenfeld, Sandsteinstaub, Trockenblumen, Disteln, Glassplitter und Holz sowie Lack, Perlmuttfarbe und Fixativ auf Ölfarbe. Es entsteht eine neue, künstlerische Sprachform, die sich maßgeblich über eine veränderte Materialästhetik ausdrückt. Dabei ist nicht die Verwendung 'ärmlicher' Materialien, wie der Begriff Arte Povera suggeriert, entscheidend. Im Fokus steht vielmehr die Überwindung des tradierten Verhältnisses der Wertigkeit von Materialien. Die Parallelen zeigen sich in der Herangehensweise an die Kunst. Hier wird die Gegenüberstellung des Neuen und Alten, des Hochverarbeiteten und Vorindustriellen in den Vordergrund gestellt. Auf diese Weise hat diese Kunstrichtung einige Auswirkungen der Modernisierung veranschaulicht, die zur Zerstörung von Orten und Erinnerungen beitragen. Diese etablierten Vorstellungen von Wert und Korrektheit, die die Arte Povera in Frage stellte, spielt bei Bonaudo-Ewinger ebenfalls eine Rolle. Der stumme Dialog des Malers mit Form, Farbe, Bilderkosmos und Kunstgeschichte sind nur ein Teil vieler unsichtbarer und sichtbarer, künstlerischer Prozesse. Der gesellschaftliche Kontext und die unmittelbare Umgebung sind prägende Faktoren, die das Werk als verdichtete Gemengelage aus bildnerischen Ereignissen und Motiven entstehen lässt. Das Spannungsverhältnis zwischen innerem Drängen nach Veränderung und dem gleichsam Determiniert-Sein durch die eigene soziale Herkunft ist die Antriebskraft des künstlerischen Schaffens von Daniel Bonaudo-Ewinger.
Christina Körner (Kunstwissenschaftlerin M.A.) über Daniel Bonaudo-Ewinger im Ausstellungskatalog zur Einzelausstellung "Nachts allein in Freckenfeld", St. Georgskirche Kandel, 2022