Semantik des Elementaren
Bei Oliver Schollenberger müssen wir auf das achten, was nicht zusehen ist. Seine Bilder sind einem fortschreitenden Abstraktionsprozess ausgesetzt. Abstraktion bedeutet hier aber nicht das Verschwindenlassen, sondern das Entschlacken der Form, das Ab-sehen von allem Zufälligen, Akzidentiellem, die Bewegung auf eine Ur-Form, auf ein Ur-Bild zu, das Platon bekanntlich die Idee nennt. Die Idee ist aber nichts, was wir mit den Augen erkennen, sie gehört dem mundus intelligibilis an, der Kraft unseres Intellekts erkennbaren Welt. Die nach immer größerer Einfachheit und Armut hinstrebenden Symbole Schollenbergers weisen damit über sich selbst und ihre eigene Sphäre des sinnlich Wahrnehmbaren hinaus.
Mit dem Wort platonisch ist nun allerdings die Assoziation des Erdenthobenen, Körperlosen verknüpft, ein etwas asketischer Geschmack. Damit darf man Schollenberger nicht kommen. Seine ursprünglichen Formen vereinen sich zu erdnahen Festen, an ihrem Ja zum Leben ist nicht zu zweifeln, es sind auch Archetypen des Lebendigen.
Das Boot etwa als Sinnbild von mutigem Aufbruch, von Überfahrt und Rettung, formal so nahe dem Fisch verwandt: Ist ein Boot nicht ein halber Fisch, verkleiden wir uns nicht als Fisch, wenn wir in ein Boot steigen, gaukeln wir dem Wasser nicht vor, wir seien heimgekehrt in eine frühere evolutionäre Form, wir seien irgendwie heimgekommen? Und tauchen doch ins Ur-Element nicht ein, gleiten nur auf seiner Oberfläche dahin. Wir: die Kopfwesen - weshalb sonst taucht immer wieder das Gesicht auf? Wir: die Kampfwesen - die gegen den Stier kämpfen, gegen die Natur... auch die Natur in uns. Wir: die Hoffenden, die das grüne Reis in der Hand halten, wie einst Noah, als die Flut zurückging.
Dies ist das eine Anliegen Schollenbergers: eine Art Semantik des Elementaren zu entwerfen, ein Bild-Wörterbuch der Ur-Formen zusammenzustellen. Am "Potpourri" von Formulierungsversuchen (an der rechten Wand) ist das abzulesen, sie wirkt wie eine Sammlung von Einzelblättern für ein Lexikon.
In den größeren Werken fügen sich die Zeichen, um in der Metaphorik der Sprache zu bleiben, zu Sätzen, manchmal in der Weise, dass die einzelnen Symbole doch für sich bleiben, in "Accorden" in der zugewiesenen Farbparzelle. Im Bild "Victoria" zeigen sich neue Zusammenhänge, die umliegenden Parzellen lösen sich auf, die Elemente ordnen sich zu einer Räumlichkeit. Allerdings ist dieser Raum kein abgebildeter realer, sondern ein Bedeutungsraum, aufgespannt durch die Elemente, durch ihre Rhythmisierung, ihre Variation. In diesem Bedeutungsraum schwingen, schweben Botschaften von Gefährdung und Rettung - immer wieder die Boote - da wirft ein Fisch einen Schatten, als sei er zum Bewusstsein seiner dunklen Seite gelangt, da erzählt ein Zweig von Wiederkehr und Immerwiederkehr.
Hans-Jürgen Herschel